“Die eigentlichen Entdeckungsreisen bestehen nicht im Kennenlernen neuer Landstriche, sondern darin, etwas mit anderen Augen zu sehen.”
Marcel Proust (1871-1922)

2008: Eine Familien-Expedition.

„Nein Papa, das ist doch A-valo-ki-tesh-va-ra!“, belehrt mich Lino, mein dreijähriger Sohn, auf ein Bild des Buddha deutend. Währenddessen inspiziert seine sechsjährige Schwester, Laura, nahe dem Kloster fachmännisch einige verblichene Tierknochen. Nicht nur die beiden, auch wir Eltern haben während unserer einmonatigen „Expedition“ in Ladakh viel dazugelernt.

Vor unserer Abreise kreisten Sorgen in unseren Köpfen. Was, wenn die Kinder krank werden? Die Höhe nicht vertragen? Wenn ihnen Ladakh nicht gefällt? Unsere Bedenken erweisen sich als unbegründet. Die lange Anreise war für die Kids zwar anstrengend, aber abenteuerlich. Mit der Höhe in Leh (3.500 m) kämpfen nur wir Eltern. Der Kleinste unter uns, Lino, springt bereits energiegeladen durch den Garten der Herberge. Wenn ihnen das Gehen mal keinen Spaß mehr macht, reiten die Kinder auf zahmen Ponys. An Bächen halten wir, damit Laura und Lino mit den bunten Steinen im kühlen Nass spielen können, während wir am Ufer liegend die Wolken vorbeiziehen lassen. Im Camp musiziert Thinles, der stets fröhliche Koch, mit den Kindern auf Küchengeräten. „Zum Geburtstag wünsche ich mir noch eine Reise nach Ladakh“, sagt Laura. Ich war erleichtert, dass meine Familie die Liebe zu dieser Gegend teilen konnte. Bei mir begann sie schon vor mehr als 35 Jahren.

Auf den Ort einlassen

Nach Ladakh unternahm ich meine erste große Reise. Mit der Matura in der Tasche reiste ich 1983 zum Himalaya, in die Region meiner Jugendträume, voll der inneren Bilder aus den Büchern von Heinrich Harrer, Sven Hedin und Herbert Tichy. Ladakhs Beinamen „Tibet in Indien“ empfand ich als sehr treffend: Viele Traditionen des tibetischen Buddhismus sind hier bis heute erhalten geblieben.

Neun Jahre später, 1992, standen mein Bruder Peter und ich am Ende unserer Studienzeit und wollten noch einmal gemeinsam ein großes Abenteuer erleben. Unser Ziel war es, wochenlang in eine Richtung durch möglichst menschenleere Natur zu wandern. Wir starteten im nordindischen Manali und durchquerten in fünf abenteuerlichen Wochen mehrere hundert Kilometer des Himalaya.

Es war eine magische Reise entlang karger Hochweiden, glitzernd weißer Gletscher und über 5.000 Meter hohe Pässe. Wir campierten an idyllischen Flussufern. Und freuten uns der regelmäßig aufpoppenden Zeichen buddhistischer Kultur: Gebetsfahnen am Wegesrand, Stupas auf Bergkuppen und immer wieder Klöster, die die erhabene Landschaft zusätzlich erhöhten. Das beeindruckendste war das Kloster Phugtal in Zanskar: Nahezu unwirklich klebt es an einer steilen Felswand, die Klausen scheinen förmlich aus dem Felsgestein zu wachsen.

Wochen später gingen wir staubig, müde und verdreckt entlang abgeernteter Felder und steuerten in Richtung des Klosters von Lingshed.  Wir fragten einen Bauern, ob wir auf seinem Grundstück die Nacht verbringen dürften. Der junge Mann hieß Joungphel, er willigte nicht nur lachend ein, sondern versorgte uns auch mit Chang, selbst gebrautem Gerstenbier, das er uns abends voller Stolz in einem Kanister kredenzte.

Am nächsten Tag besuchten wir das Kloster und wurden sehr willkommen geheißen. Ich lernte den Mönch Lama Tsewang kennen, der zu einem wichtigen Freund werden sollte. Auch die Dorfbewohner waren herzlich und aufgeschlossen. Eigentlich hatten wir hier nur einen kurzen Stopp geplant, doch wir beschlossen, die verbleibenden Tage bis zur Weiterreise nach Leh hier in Lingshed zu bleiben.

Der Großteil der Dorfleute von Lingshed sind Bauern, die sich meisterhaft an die teils extrem harschen Lebensumstände angepasst haben. Die Winter hier auf 4.000 Metern Seehöhe sind lang und kalt, es gibt kaum Holz zum Heizen, ein wenig Wärme spenden Herdfeuer aus dem getrockneten Dung der Yaks. Daher verbringen die Menschen die Winternächte in fensterlosen Räumen in der Mitte des Hauses. Im Sommer dagegen ist es oft so warm, dass die Menschen auf den Dächern im Freien übernachten.

Das Schulgebäude war zusammengebrochen, Ziegen kletterten darin herum. Ich beschloss, die Planung einer Solarschule für Lingshed zu meiner Diplomarbeit zu machen. Ab 1993 organisierte ich in einem verlassenen Wohnhaus einen Schulbetrieb. Etliche Jahre später, 1999/2000, konnte ich die Schule mit Hilfe von Spendengeldern bauen. Das war auch der Auslöser, meine Anstellung als Architekt aufzugeben, und der Startschuss von Weltweitwandern.

In der Zeit des Schulbaus tauchte ich so richtig in die mir neue Kultur ein. Da kam es auch zu Entzauberungen: Es gab Mönche, die mich beim Bauplatz austricksten und immer mehr Geld wollten. Die Bauern müssen den Klöstern 80 Prozent ihrer Erträge abliefern. Dieser lächelnde Buddhismus kann durchaus knallhart sein. Ich bin über so etwas aber nie enttäuscht, ich denke: Menschen ticken überall ähnlich. Schaut man nicht genau hin, versuchen manche sich kleine Vorteile herauszuschlagen, in der direkten Zusammenarbeit sind sie aber nett. Am Ende jedenfalls, nach langem Kämpfen, Arbeiten und auch Feiern, haben wir gemeinsam etwas zustande gebracht. Und ich hatte Freunde fürs Leben gefunden.

Enge Freunde in einer anderen Welt

Viele, viele Reisen habe ich seither dorthin unternommen, Ladakh ist für mich eine zweite Heimat geworden. Mönche aus dem Kloster Lingshed, meine gute Freundin Diskit und andere liebe Himalaya-Bewohner waren wiederholt bei uns zu Hause zu Gast.

Der ideale Stützpunkt ist für mich das Yartsa-Guesthouse von Diskit und Rigzing inmitten von Gärten am Stadtrand von Leh. Die kleine, stämmige Powerfrau Diskit ist im Laufe der Jahre wie eine große Schwester für mich geworden. Tagsüber arbeitet sie als Sekretärin bei der Stadtregierung Leh, daneben schupft sie Großfamilie, Haus, den Gemüsegarten und im Sommer die Hausgäste der Familienpension. Ihr Ehemann Rigzin ist Lehrer und koordiniert für die „Buddhist Association of Ladakh“ Bauprojekte.

Diskit ist auch eine wunderbare Köchin: Sie kocht großartige Thukpa, eine herzhafte Suppe mit Gemüse, Fleisch und handgemachten Nudeln. Ein Gedicht sind auch ihre Momos, die tibetischen Teigtaschen, die mit Hackfleisch, Gemüse oder Käse gefüllt werden. Den berüchtigten „Buttertee“, grünen Tee mit gesalzener Yak-Butter, der eher wie eine Suppe ist, serviert Diskit nur auf Nachfrage. Zu viele Westler haben dabei schon das Gesicht verzogen. Mir schmeckt er hervorragend, gerade als stärkendes Elektrolyt-Getränk! Dass die Butter immer ranzig sei, halte ich für ein Gerücht.

Noch vor Diskit hatte ich ihren jüngeren Bruder Dawa kennengelernt. Der junge Ladakhi war 1993 plötzlich vor mir gestanden und hatte mich ersucht, mit meiner Trekking-Gruppe mitkommen zu dürfen. Er war nach dem Studium frisch im Agrarministerium angestellt und wollte das entlegene Gebiet bereisen, das in seine Zuständigkeit fiel.

Das war der Beginn einer engen Freundschaft nicht nur mit Dawa, sondern mit der ganzen Familie. Dawas großer Bruder Tashi verwaltete für uns viele Jahre lang unsere Kinder-Patenschaften. Der kleine Bruder Phangday war lang für Weltweitwandern als Trekkingguide unterwegs. Heute ist er Polizist.

Wirklich enge Freunde in einer doch so anderen Welt gefunden zu haben – das empfinde ich als großes Geschenk.

Die Solarschule heute

2013 habe ich Lingshed wieder besucht. SchülerInnen, LehrerInnen und Dorfleute begrüßten uns am Eingang des Dorfes mit Liedern, Blumensträußen und weißen Gebetsschals. Ich wurde in „meiner“ Solarschule untergebracht, wo alles frisch gestrichen und wohnlich war – und sehr warm: Die Beheizung durch die Sonne funktioniert also bestens. Inzwischen ist ein ganzes Bildungszentrum aus dem Projekt erwachsen, die indische Regierung, die die Schule seit vielen Jahren betreibt, hat sehr viel Geld darein und in das angeschlossene Internat gesteckt. Statt seinerzeit zwanzig lernen hier nun 120 Kinder, und statt früher vier Schulstufen können sie heute acht durchlaufen. Stolz präsentieren die Lehrer eine Auszeichnung als „beste Schule des Bezirks“.

Der Verein „Friends of Lingshed“ aus Österreich finanziert weiterhin Lehrbücher, Patenschaften und die Winterschule und organisiert Unterricht auch in umliegenden Dörfern.

Beeindruckt bin ich vor allem von der geballten Frauenpower in der Schule: Die meisten Lehrkräfte sind weiblich. Und: Fast alle haben ihre Grundausbildung in unserer Schule absolviert.

Ladakh-Reisen heute

So oft habe ich die Reise schon unternommen, und immer noch finde ich die Fluganreise nach Ladakh spekaktulär! Man fliegt vom indischen Tiefland über den Himalaya. Die Gipfel sind zuerst vergletschert, je weiter man aber in den Norden vordringt, desto trockener und wüstenhafter wird die Gebirgslandschaft am Hochplateau von Tibet. Vom Flugzeugfenster aus erkennt man schon die vielen grünen Oasen der Siedlungen zwischen den mächtigen Gebirgszügen. Das Flugzeug fädelt sich buchstäblich zwischen hohen Bergrücken ein und schließlich auf 3.400m Seehöhe am „Dach der Welt“.

Die ersten Tage in Ladakh muss man unbedingt ruhig angehen und sich in der Hauptstadt Leh an die ungewohnte Seehöhe gewöhnen. Einer der Ausflüge in diesen Tagen kann zum Beispiel zum Gelbmützenkloster Thiksey führen – eines meiner Lieblingsklöster wegen seiner tollen Lage auf der Kuppe eines Hügels mit weiter Aussicht auf das Industal und die schneebedeckten Himalayaberge ringsum.

Erforderte die Reise von Leh nach Lingshed früher fünf Tage Fußmarsch, so ist seit einigen Jahren eine Straße in Bau. Jetzt wandert man nach der Fahrt „nur“ noch vier Stunden. Die Fahrt führt von der Hauptstadt Leh einige Stunden den Indus flussabwärts. Beeindruckend ist der Ort, an dem der Zanskarfluss schäumend aus einer Schlucht heraustritt und in den Indus fließt. Dann geht es weg vom Industal und von der asphaltierten Straße, auf einer wilden Jeep-Piste durch enge Täler hinein Richtung Himalaya-Hauptkamm.

Der Blick vom Singela (Löwenpass, 5.000 m) zum Hauptkamm ist für mich eine der spektakulärsten Passagen im ganzen Himalaya. Die ganze wild zerklüftete Gebirgslandschaft hier lag früher einmal unter dem Meeresspiegel, und dieses Vorleben als Meeresklippen sieht man immer noch: Auf fast 5.000 Metern sind viele versteinerte Muscheln zu finden.

Heute noch ist der schönste, letzte Teil unserer damaligen Reise einer unserer Trekking-Klassiker bei Weltweitwandern: Wir veranstalten den „Zanskar-Trek“ seit mehr als 20 Jahren. Weil dort aber doch einige neue Straßen gebaut wurden, haben wir die Route immer wieder den aktuellen Verhältnissen angepasst.

Beste Reisezeit: Der Juni, weil dann alles so grün ist – und auch der September mit wunderschönen Herbstfarben in den Oasendörfern.
Beste Wanderung: Meine allererste 5-wöchige Himalayaüberquerung mit meinem Bruder Peter war sicher eine der beeindruckendsten Wanderungen meines Lebens!
Besonderheiten? Das wochenlange Gehen durch diese großmächtige Gebirgslandschaft war wie eine lange Meditation, wie ein Betreten einer anderen Dimension des Lebens
Literatur & Film: Der Reiseführer „Ladakh & Zanskar“ vom Verlag Reise Know How, „Leben in Ladakh“ von Helena Norberg-Hodge, „Der Weg der weißen Wolken“ von Anagarika Govinda, Was ich von Asien gelernt habe: Wege in Weisheit glücklic
Aufpassen: Auf die langsame Höhenanpassung, ein wenig auch auf sicheres Trinkwasser.
Geheimtipp: Das Nubratal und die Trekkingtouren Richtung Changtang, zur tibetischen Grenze

Reiseinfos: https://www.weltweitwandern.at/asien/ladakh/

Fotos: https://www.facebook.com/pg/Weltweitwandern/photos/?tab=album&album_id=10151602416072030


 

Comments ( 3 )

  • Greta Kostka

    Schön zu lesen wie alles begonnen hat..und ich freue mich, dass ich eine Wegbegleiterin sein durfte..Ladakh und ich sind seit vielen Jahren verbunden

  • Volker

    Hallo,

    Ladak und Zanskar gehören auch zu meinen absoluten „Reise Highlights“.
    Es ist zwar schon ewig her (1984 und 1988), aber die Erinnerungen sind noch frisch.

    2 mal von Lamayuru nach Darsha. Damals haben wir alles selbst organisiert. Verhandlungen bei Tee um Pferde bzw. Esel für den Transport zu bekommen. Lebensmittel und Kocher für unterwegs gekauft etc.

    Highlights waren ein Dorf/Tempelfest. Der Besuch des Dalai Lama. Das Treffen mit Yaknomaden, der Besuch von Phukthal, wo wir Räume besichtigen durften, die normalerweise für Fremde verschlossen waren.

    Der Kontakt zu den freundlichen Menschen war auch sehr erfreulich. Ausserdem trugen damals noch recht viele Menschen tradionelle Kleidung.

    Nicht zu vergessen die grandiose Natur. Ich würde mich freuen, wenn ich es noch mal dorthin schaffen würde.

    Schöne Grüße

    Volker

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