Sie kennen das aus Ihrem eigenen Leben: Der Stress und das Tempo nehmen zu. Die Welt dreht sich für die meisten von uns immer schneller. Der Leistungsdruck steigt. Beschleunigter Alltag und rasant getaktete Arbeitswelten prägen unsere Gesellschaft. Alles wird schneller, effizienter und digitaler. Wir verbringen immer mehr Zeit hinter dem Computer und mit unseren Smartphones. Entwicklungen, die ich aber nicht nur negativ betrachte. Ich zähle mich nicht zu jenen Kulturpessimisten, die die Welt im permanenten Abwärtstaumel sehen. Im Gegenteil: Ich finde viele Errungenschaften unserer modernen Welt faszinierend. Zu keiner Zeit in der Menschheitsepoche hatte der Homo sapiens solche Möglichkeiten wie heute. In der Vielzahl der Ablenkungen und der pausenlosen Reizüberflutung liegt aber auch die Gefahr. Daher braucht es einen bewussten Gegenpol, damit das tägliche Prasseln echter oder virtueller Eindrücke uns nicht den Blick für die wirklich wichtigen Dinge raubt. In der eiligen Betriebsamkeit übersehen wir nur allzu leicht, was uns wirklich glücklich machen kann.
Rezepte zum Ausgleich gibt es viele. Doch keines ist meiner Erfahrung nach so wirksam wie das Wandern. Wandern heißt nicht nur Bewegung, sondern ist eine „Gegen-Bewegung“ im besten Sinn – es schafft einen Ausgleich zur Generation Highspeed und zum Wahn unentwegter Selbstoptimierung. Wandern folgt einem anderen Zeitmaß. Sein entschleunigender Rhythmus ermöglicht, sich buchstäblich wieder zu „be-Sinnen“.
Seit früher Jugend nutze ich das Wandern als Instrument zur Rückbesinnung – zum Entdecken und Erforschen. Wandern heißt für mich, Schritt für Schritt mir selbst, anderen Menschen und fremden Kulturen sowie neuen Landschaften zu begegnen. In einem Rhythmus, der meinem Geist und Körper angemessenen ist. Alle Sinne sind mit einbezogen: Riechen, Fühlen, Hören, die Wahrnehmung des Raums, den ich mit meinem Körper durchschreite. Nirgends kann ich mir selbst intensiver begegnen als beim Alleinsein in den Bergen. Nirgends kann ich mich mehr auf mich selbst besinnen. Die Tiefe der Erfahrung funktioniert auch in Gesellschaft. Wenn ich mit anderen Menschen wandernd unterwegs bin, entstehen fast immer besonders gute Gespräche. Der Kopf wird frei, die Gedanken werden im Rhythmus des Gehens kreativ und konstruktiv. Ist schließlich das Ziel erreicht, oben am Gipfel oder unten in der Hütte, überkommt mich stets das Gefühl der Freude über den Erfolg. Oben anzukommen löst einen Perspektivwechsel aus. Durch die Weite der Landschaft und das Hinunterschauen auf die winzigen Dinge im Tal relativiert sich vieles. Von oben betrachtet, wird mir bewusst, welche Fülle das Leben bietet und wie relativ meine Probleme und mein Ärger „unten“ in Wahrheit sind. Problemberge schrumpfen im Nu zu Alltagszwergen.
Etwas liegt verborgen. Geh und finde es.
Gehe los und schau nach hinter den Bergen. Etwas wurde hinter den Bergen verloren. Es liegt dort vergessen und wartet auf dich.
Geh!
Rudyard Kipling 1865 – 1936
Wer wandert, erhöht die „Detailschärfe“ und vertieft seinen Blick auf die Welt um sich.
Der Rhythmus bestimmt das Bewusstsein und das Tempo die Wahrnehmung. Dinge, die sonst an einem „vorbeirauschen“ werden einem Wandernden unmittelbar gewahr. Jeder, der schon einmal längere Strecken gewandert ist, kennt das: Das Ankommen in der Gegenwart und das unmittelbare Erleben des Moments begleiten einen buchstäblich auf Schritt und Tritt.
Das Staunen über eine leuchtend schöne Blume am Wegesrand, das Berührt-Werden von einer reizvollen Landschaft, von verzaubernden Licht- und Wolkenstimmungen oder einem magischen Sonnenaufgang, das Durchdrungen-Werden von kristallklarer Bergluft, die Hingabe an den rauschenden Klang eines Bächleins, die tief empfundene Zufriedenheit beim Erreichen eines Gipfels und all die wunderbaren Begegnungen mit Gleichgesinnten in der Natur, ob in der Heimat oder in der Fremde – allesamt Eindrücke und Erfahrungen, die der Langsamkeit des Gehens geschuldet sind.
Ja, Wandern ist langweilig! Im Sinne von „eine längere Weile“ im Hier und Jetzt sein. Wandern ist das langsamste Landschaftskino und die entschleunigste Form der Fortbewegung durch Raum und Zeit. Der Wandernde ist Regisseur und Hauptdarsteller seines eigenen Naturfilms – er bestimmt Kulisse und Drehbuch und auch die Äktsch’n-Anteile. Wandern ist mal Heimatfilm, mal Abenteuerstreifen, mal Familienunterhaltung – ein wunderbarer Genre-Mix. Den Rucksack an berührenden Momentaufnahmen während einer Wanderung lässt jede Netflix-Serie alt aussehen.
„Die erhabene Sprache der Natur lernt nur der Wanderer kennen.“
Johann Wolfgang von Goethe
Beim Wandern passieren alle jene Dinge wie von selbst und auf eine ganz einfache Weise, die unter dem heute sehr populär gewordenen Begriff „Achtsamkeit“ propagiert werden. Für Buddha selbst war das Gehen eine der besten Formen von Meditation:
„Jeder wachsame Schritt, jede achtsame Handlung ist der direkte Weg zum Erwachen. Wo immer du gehst, da bist du.“
Siddharta Gautama / Buddha (563-483 v. Chr.)
Die gute Nachricht: Wandern ist keine Raketenwissenschaft. Es braucht dafür weder große theoretische Kenntnisse noch hartes Training. Jede und jeder, der halbwegs gesunde Beine hat, kann wandern! Das Unspektakuläre des Wanderns ist auch sein unschlagbarer Vorteil: Es ist sehr leicht auszuüben. Man braucht Wandern nicht in aufwändiger Art und Weise zu „erlernen“.
Wandern heißt loszugehen und einen Fuß vor den anderen zu setzen!
Das Gehen ermöglicht, wieder mit sich selbst in Kontakt zu kommen. Wandern hat viele positive Aspekte für die Gesundheit. Aber nicht nur das: Wer seinen Körper bewegt, hält auch seinen Geist in Schwung und die Gedanken kommen in neue Bahnen. So weiß man heute, dass der griechische Philosoph Aristoteles seine Vorlesungen vorzugsweise im Gehen abgehalten haben soll. Seine philosophische Schule „Periaptos“ heißt übersetzt „Spaziergang“ bzw. „Wandelhalle“. Wege entstehen bekanntlich im Gehen – im besten Fall auch neue Gedanken-Gänge.
Die gesundheitsfördernde Wirkung des Wanderns ist sogar wissenschaftlich belegt: Der Alpenverein konnte in einer Studie nachweisen, dass das Wandern zusammen mit dem Naturerlebnis signifikant Stress reduziert und Gesundheit und Wohlbefinden positiv beeinflusst.
Wandern heißt auch Wandeln. Auch ich persönlich bin durchs Reisen und Wandern ein anderer geworden – und werde es noch heute mit jeder neuen Wanderreise. Vor allem das Wandern in anderen Kulturkreisen hat mich seit jeher fasziniert und geprägt. Was ich dabei am meisten zu schätzen gelernt habe, ist Vielfalt. Ich bin überzeugt, dass wir dafür kämpfen müssen, Vielfalt in der Welt zu bewahren. Den Artenreichtum der Natur genauso wie die Verschiedenheit der Meinungen und die vielfältigen Arten zu leben. Um Vielfalt in unseren Köpfen zuzulassen, sind Wanderreisen für mich unumgänglich.
Wo Mensch und Berg aufeinandertreffen, ereignen sich große Dinge, die sich im Gedränge der Straßen nicht verwirklichen lassen.
William Blake 1757-1827
PS: Der obenstehende Beitrag ist ein erster Vorgeschmack auf mein am 1. Oktober 2019 erschienenes Buch „Das große Buch vom Wandern“.
Hier die geplanten Buchvorstellungen:
Tuttlingen/Deutschland:
Mo., 28.10., 19.00 Uhr, Stiefels Buchladen (Donaustraße 44, 78532 Tuttlingen)
im Rahmen von 20 Jahre Weltweitwandern & Büroeröffnungsfest
Do, 21.11.2019 / 18:30 Uhr / Blumen Wedenig GmbH , 10 Oktoberstr. 15, 9560 Feldkirchen
Hallo Christian, absolut klasse geschrieben (y) Letztes Jahr landete ich gehetzt und gestresst auf Madeira. Richy hatte mich im Frühjahr überzeugt gehabt, die Inselüberschreitung anzugehen. Schon am ersten Tag kam ich an meine Grenzen und ließ den beruflichen Alltag komplett vergessen. Des Weiteren lernte ich den Zusammenhalt beim Wandern kennen. Eine zu Hause fast vergessene Eigenschaft. Wie sollte es auch anders kommen, hat mich der Virus erwischt. Gewandert wird jetzt auch zu Hause und so lernte ich, mit dem täglichem Stress anders umzugehen.
Gruß aus Thüringen
Torsten