Im Oktober & November war ich 550 km in 23 Tagen zu Fuß unterwegs am Franziskusweg von Florenz nach Rom. Hier Teil 2 meines Reiseberichtes:
Zwischen Himmel und Erde – Von La Verna nach Assisi
Eigentlich hatte ich nur einen kurzen Halt in La Verna geplant. Doch schon beim ersten Betreten des Klosters spüre ich: Das hier ist ein wirklich besonderer Ort. Ich geriet sofort in den Bann der starken Ausstrahlung dieses bedeutenden Pilgerortes. In der Sakristei begegnen ich einer Nonne, deren strahlende Augen und echtes Interesse uns überraschen. Sie erzählt mir vom Leben des heiligen Franziskus und weist besonders auf die große spirituelle Kraft des Felsspalts im hinteren Klosterteil hin. Die tiefe Kluft dort erinnert mich an die Borkafestung aus „Ronja Räubertochter“ von Astrid Lindgren – ein Buch, das ich allen meinen Kindern vorgelesen habe. Doch hier bekommt der Spalt eine tiefere Bedeutung.
„Diese Schlucht war für Franziskus ein Symbol der völligen Hingabe“, erklärt die Nonne. „Jeder Mensch, auch ich als Nonne, kennt die Angst davor, das Ego loszulassen. Davor haben wir alle die größte Angst!“ Ihre Worte treffen einen Nerv. Als jemand, der gewohnt ist, vorne zu stehen und zu führen, spüre ich diese Angst vor dem Loslassen nur zu gut.
Die Nonne erzählt, wie Franziskus sich immer wieder an diesen Ort zurückzog, besonders in Zeiten der Zweifel. Hier, an der tiefen Felsspalte, suchte er die direkte Verbindung zu Gott. „Der Weg erschließt sich immer nur in der Kommunikation mit anderen, im ‚Du'“, sagt sie, „niemals alleine im ‚Ich‘.“ Sie spricht von Martin Bubers Philosophie der Ich-Du-Beziehung, die auch Franziskus lebte – in der unmittelbaren Begegnung mit seinen Gefährten und mit Gott.
Dass auch ein Heiliger wie Franziskus mit Zweifeln rang, berührt mich. Er erlebte schwere Krisen, zog sich dann oft zurück, suchte die Stille. Gegen Ende seines Lebens musste er sogar miterleben, wie sich seine Ordensgemeinschaft in eine Richtung entwickelte, die ihm nicht mehr entsprach. Vielleicht ist Vertrauen nichts Stabiles, sondern ein ständiges Ringen, ein immer wieder neu Suchen des richtigen Weges.
Wenn die Stille sprich
Spontan entscheide ich, eine Nacht in der Klosterherberge zu bleiben. Am Abend sitze ich im geräumigen Kloster-Speisesaal, umgeben von einer großen Gruppe Nonnen, die hier ihr dreitägiges spirituelles Retreat beenden. Das Essen ist köstlich, dazu gibt es herrlichen Rotwein – selbst hier oben im Kloster. Es ist schön zu sehen, dass auch die Nonnen den Genuss spürbar schätzen. Einige haben rote Wangen vom Essen, den Gesprächen und auch ein wenig vom Wein, lachen und strahlen. Von der strengen Ernsthaftigkeit, die man vielleicht erwarten würde, ist nichts zu spüren. Spiritualität, gepaart mit Leichtigkeit und unbeschwerten Miteinander – auch das ist Italien.
Die Morgensonne kämpft sich am nächsten Tag durch den Nebel, als ich noch im Halbdunkel zur Hauptkirche des Klosters gehe. Die Gesänge der Franziskanermönche und Nonnen erfüllen den Raum. Ihre Stimmen erzeugen eine Atmosphäre, die Gänsehaut verursacht. Später genieße ich die regnerische Stimmung auf dem Klosterplatz, wo Nebelschwaden zwischen den aus dem Grau ragenden Dächern und Türmen von La Verna ziehen.
Der heilige Wald
Bei sehr regnerischem Wetter breche ich dann auf. Der feuchte Laubteppich am Weg ist unheimlich schön, der Wald um mich herum noch stiller als sonst, weil der Nebel die Sicht auf vielleicht 30 Meter beschränkt. Es ist richtig mystisch. Im Klosterladen hatte ich mir eine Franziskus-Gebetskette gekauft und benutze sie nun, um unterwegs beim Gehen buddhistische Mantras zu murmeln – was mir näher ist als das Rosenkranzbeten. „Om Mane Padme Hum“ begleitet nun meinen weiteren Weg…
Der Weg führt durch ein riesiges, uraltes Waldgebiet, in dem schon seit über 1000 Jahren Mönche leben und den Wald behutsam pflegen. Ein buchstäblich heiliger Wald! Die Buchen, Eichen und Kastanien mit ihrem goldgelben Laub wirken wie Säulen einer natürlichen Kathedrale. Überall liegt ein Teppich aus Blättern – gelb, orange, braun. Das sanfte Plätschern kleiner Bäche begleitet mich, während ich durch die moosbewachsenen Wälder ziehe.
Der lange Weg nach Assisi
Nach den stillen Wäldern von La Verna führt der Weg über Pietralunga nach Gubbio. Ich erreiche eine der schönsten mittelalterlichen Städte Italiens. Die Piazza Grande thront hoch über der Ebene, eingebettet in die steinerne Stadt. Ich sitze lange dort oben, trinke Wein, esse Brot mit Käse, Salami und Trüffel.
Auf dem weiteren Weg nach Assisi erlebe ich meinen ersten echten Krisenmoment. Den ganzen Tag Regen, der Weg schlammig. Meine Goretex-Wanderschuhe können nicht verhindern, dass ich innen völlig nass werde. Am Abend dann der Schock: Mein geplantes Quartier ist voll, andere Unterkünfte reagieren nicht auf Anrufe. Es wird dunkel, der nächste Ort liegt Stunden entfernt. In solchen Momenten könnte man leicht in Panik verfallen. Doch ich bleibe erstaunlich ruhig, entwickle Plan B, C und D. Zum Glück vermittelt mir die nette Frau vom ausgebuchten Quartier eine Bekannte im Nachbardorf.
Die Stadt des Heiligen
Je näher ich Assisi komme, desto mehr spüre ich die besondere Energie dieses Ortes. Die Stadt thront majestätisch auf ihrem Hügel, überragt von der gewaltigen Franziskus-Basilika. Die steinernen Gassen atmen Geschichte. Überall Pilger aus aller Welt, ein vielsprachiges Gemurmel erfüllt die Luft. Doch sobald man die Basilika betritt, wird es still.
In der Unterkirche, am Grab des Heiligen, herrscht eine ganz besondere Atmosphäre. Viele Pilger sind in tiefes Gebet versunken. Die Grabkammer strahlt eine Kraft aus, die auch mich, der ich sonst eher buddhistisch meditiere, tief berührt. Hier verschmelzen die Lehren, die mich schon lange faszinieren: Franziskus und Buddha, beide kamen aus reichem Haus und ließen dann bewusst allen Wohlstand und alle Sicherheiten hinter sich. Beide waren Mystiker, die den direkten Weg zu einer höheren Wahrheit suchten. Diese unmittelbare Verbindung zur Quelle, ihr Streben nach dem einfachen Leben inmitten der Natur, ihre Botschaft der bedingungslosen Liebe – es ist im Kern dieselbe zeitlose Wahrheit.
Zeitlose Botschaft
Was mich auf dem Weg besonders berührt, ist die erstaunliche Aktualität der Botschaft des heiligen Franziskus. Lange vor unserer Zeit des Klimawandels und der Umweltzerstörung lebte er eine tiefe Verbundenheit mit der Schöpfung. In seinem berühmten Sonnengesang sprach er von „Bruder Sonne“ und „Schwester Mond“, nannte die Tiere seine Brüder und Schwestern. Diese radikal andere Sichtweise auf die Natur macht ihn zu einem der ersten Umweltschützer der Geschichte.
Er predigte nicht nur den Vögeln – wie in der bekannten Geschichte – sondern setzte sich auch aktiv für den Schutz der Tiere ein. In einer Zeit, als die Natur hauptsächlich als Ressource gesehen wurde, erkannte er den eigenen Wert jedes Geschöpfes. Seine Haltung der Demut und des Respekts gegenüber der Schöpfung ist heute aktueller denn je. Nicht umsonst gilt er als Schutzpatron der Umweltschützer und wurde sein Name zum Programm der päpstlichen Umwelt-Enzyklika „Laudato Si“.
Mystiker gelten in allen Religionen als „Systemgefahr“
Franziskus war, wie Buddha, Rumi oder Meister Eckhart ein Mystiker. Diese besonderen Menschen suchten den direkten Weg zur göttlichen/ewigen Wahrheit, ohne den Umweg über die organisierten Religionen. Gerade das machte sie für die etablierten Kirchenstrukturen oft unbequem. Denn wer die unmittelbare Erfahrung des Göttlichen sucht, braucht keine vermittelnden Institutionen. Die Geschichte zeigt es immer wieder: Ob die Sufis im Islam oder die christlichen Mystiker – sie alle wurden von den offiziellen Religionsgemeinschaften mit Skepsis betrachtet, sehr oft auch bekämpft. Auch Franziskus erlebte diese Spannung. Schon zu seinen Lebzeiten versuchte die Kirche, seine radikale Bewegung zu „zähmen“ und in geordnete Bahnen zu lenken.
Als ich am Abend durch die nun stillen Gassen Assisis wandere, denke ich über die Kraft dieses Ortes nach. Hier begann vor 800 Jahren eine Bewegung, die bis heute nichts von ihrer Relevanz verloren hat. Franziskus‘ Botschaft der Einfachheit, der Naturverbundenheit und der bedingungslosen Liebe spricht Menschen über alle Religionsgrenzen hinweg an. Vielleicht brauchen wir gerade heute, in unserer komplexen und oft verwirrenden Zeit, solche klaren, einfachen Wahrheiten mehr denn je.
Morgen werde ich weiterwandern, Richtung Rom. Aber dieser Tag in Assisi wird nachhallen. Manchmal braucht es Orte wie diesen, um wieder zu spüren, worauf es wirklich ankommt im Leben.
Info-Box: Der Franziskusweg praktisch
- Länge: 540 km von Florenz über Assisi nach Rom
- Dauer: 22-30 Tage für die Gesamtstrecke
- Beste Reisezeit: Frühling (April-Juni) oder Herbst (September-Oktober)
- Schwierigkeit: Mittelschwere Wanderung, auch für Anfänger:innen geeignet
- Highlights: Florenz, La Verna, Gubbio, Assisi, Spoleto, Rieti, Rom
- Empfohlene Literatur: Outdoor Wanderführer „Italien: Franziskusweg“ (Konrad Stein Verlag)
- Pilgerausweis: In größeren Kirchen oder vorab über die im obrigen Reiseführer angegebene Adresse erhältlich
- Anreise: Nachtzug von Graz/Wien nach Florenz
Christian Hlade ist Gründer und Geschäftsführer von Weltweitwandern, einem der führenden Wanderreiseveranstalter im deutschsprachigen Raum. Er lebt mit seiner Familie in Graz und verbindet in seiner Arbeit die Freude am Wandern mit der Begegnung zwischen Menschen und Kulturen.